L

esekompetenz und Lernfähigkeiten steigern

A

useinandersetzung mit Werten

(Entwicklung eines Wertesystems und Charakterbildung)

T

hemenvielfalt

(Literatur, Kunst, Geschichte, Politik, Ethik, Religion, Mythologie, Alltagsleben der Römer)

E

rhöhung der muttersprachlichen Kompetenz

(System moderner Fremdsprachen)

I

nterpretation und Bewertung antiker Texte

(Konfrontation von Antike und Moderne)

N

utzen der Erkenntnisse für die eigene Lebenswelt

Die Geschichte des Schulfachs Latein in Deutschland reicht bis ins frühe Mittelalter (ca. 720) zurück. Die ersten Schulen, die damals gegründet wurden, waren Klosterschulen, in denen Latein als allgemeine Unterrichtssprache gesprochen und gelehrt wurde. Daher kann man Latein als das älteste Unterrichtsfach in Deutschland bezeichnen. Latein, die „Vatersprache des Mittelalters“ bildete das Zentrum des gesamten mittelalterlichen Schulwesens: Nur wer diese Sprache in Wort und Schrift beherrschte, erhielt vollen Zugang zum kirchlichen Leben und zu den Bildungsgütern, die an Kloster-, Kathedral und Domschulen und seit dem Spät­mittelalter auch an den städtischen Schulen vermittelt wurden. Neben der sicheren und akti­ven Beherrschung der Sprache wurde im Lateinunterricht in großem Umfang antike Literatur behandelt. Hierzu gehörten neben den sog. Disticha Catonis (Cato d. Älteren zugeschiebene Moralsprüche) und Fabelstoffen vor allem Werke der Epiker Vergil (‚Aeneis‘) und Ovid (‚Metamorphosen‘), des Lyrikers und Satirikers Horaz, des Komödiendichters Terenz, des Redners, Philosophen und Politikers Cicero sowie des Historikers Sallust. Sehr großen Wert wurde jedoch auch auf lateinische Werke zeitgenössischer Schriftsteller gelegt, z. B. auf die Alexandreis von Walter von Chatillon, ein Epos über Alexander den Großen. Latein war im Mittelalter eine lebende, sich verändernde Sprache, die sich jedoch vom klassischen Sprach­gebrauch der Antike nachhaltig entfernt hatte.

Unter dem Einfluss der Renaissance, die im 14. Jahrhundert in Italien ihren Anfang genom­men und in der zweiten Hälfte in Deutschland ihr Wirken entfaltet hatte, stand im Gegensatz zum Mittelalter allein die klassische Antike im Zentrum des Interesses: Die Humanisten hiel­ten das mittelalterliche Latein zumeist für barbarisch und sahen in ihm Ausdruck des sprachli­chen und geistigen Verfalls. Statt dessen sollten Künste und Wissenschaften durch die Wie­dergeburt antiker Gelehrsamkeit erneuert werden. Dabei lieferten die antiken Texte den Hu­manisten nicht nur durch ihre klassische Sprache das stilistische Vorbild schlechthin, das es durch aktiven mündlichen und schriftlichen Gebrauch zu erreichen galt, sondern die klassi­sche antike Literatur der Griechen und Römer war ihnen auch normgebend für das eigene Verhalten. Sprachschulung und vernunftgemäßes Handeln waren dabei untrennbar verbunden. Entscheidendes Vorbild im Lateinischen war dabei Cicero, und zwar als der Prototyp eines umfassend gebildeten Menschen und die Verkörperung römischer humanitas (‚das, was den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen macht‘) Als Bildungsbewegung wirkte sich der Humanismus sehr stark auf das Schulwesen aus: So stand in der humanistisch ausgerich­teten Lateinschule des Reformators, Bildungsreformers und Humanisten Philipp Melanchthon (1497-1560) das Lateinische im Mittelpunkt aller pädagogischen Anstrengungen. Die Lehrer sollten alles in lateinischer Sprache lehren, ständig sollte (auch im Umgang der Schüler unter­einander) lateinisch gesprochen werden. Cicero, römische Historiker, Terenz, Vergil und Ovid bildeten das Zentrum der Lektüre, aber auch zeitgenössische Schriften wurden im Unterricht behandelt, so z. B. die Colloquia familiaria (‚Vertraute Gespräche‘) des Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469-1536). Dieses damals weit verbreitete Gesprächsbüchlein bot den Schülern sprachlich elegante und geistvolle Musterdialoge, da die aktive, korrekte und form­vollendete Beherrschung des klassischen Latein das wichtigste Lernziel war. Dieses Unter­richtsziel hatte auch praktische Gründe: Latein war nach wie vor das entscheidende interna­tionale Kommunikationsmedium und an den europäischen Universitäten die Unterrichtsspra­che, während die Nationalsprachen in diesem Zusammenhang noch keine Rolle spielten.

Seit dem 17. Jahrhundert setzte infolge der großen Kriege und aufgrund der erstarkenden Na­tionalsprachen der Niedergang der humanistisch ausgerichteten Lateinschulen ein. Zwar blieb das Lateinische auch weiterhin die wichtigste schulische Fremdsprache, die nach wie vor ak­tiv zu beherrschen war, allerdings wurde nun dem Erlernen der Muttersprache wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem wurden neue Fächer wie Mathematik, Physik und Fran­zösisch in den Fächerkanon aufgenommen, die den Anteil des Lateinischen verringerten. Auch die nachlassende Qualität des Unterrichts wird beklagt. so z. B. vom bedeutenden Phi­lologen Christian Gottlob Heyne (1729-1812): Die Ausbildung der Lehrer war offensichtlich schlecht, und der Lateinuntericht erstarrte in einem stilistischen Formalismus „ohne Geist und Sinn“, indem weiterhin mit großer Mühe der aktive Gebrauch des Lateinischen geübt wurde, für den es jedoch außerhalb der Schule keine praktische Bedeutung wie noch zur Zeit des Renaissance-Humanismus gab.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine durchgreifende Änderung dieser Ver­hältnisse, die maßgeblich durch Wilhelm von HumboldtNeuhuma­nismus geprägt wurde und zu einer umfassenden Reform des Bildungswesens führte. In der Auseinandersetzung mit der Sprache und den Texten der klassischen Griechen und Römer sollten die Schüler nicht so sehr zur praktisch-beruflichen Brauchbarkeit erzogen werden. Ebenfalls ging es nicht mehr darum, Latein für den mündlichen Gebrauch als Kommunikati­onsmittel zu erwerben, vielmehr stand die sog. „allgemeine Menschenbildung“ im Vorder­grund, die harmonische Entfaltung eines selbstständigen, selbsttätigen und selbstverantwortli­chen Individuums. Hierbei handelte es sich um ein ausgesprochen liberales Bildungskonzept, das bewusst Vorteile aufgrund von Standeszugehörigkeit ausschloss. Obwohl Humboldt der griechischen Kultur als „Ideal allen Menschendaseyns“ den Vorzug vor dem Lateinischen gab, blieb die Sprache der Römer auch im Humboldtschen Gymnasium das Zentrum des Un­terrichts: Von den 32 Schulstunden eines Gymnasiasten waren im sog. „Süvernschen Nor­malplan“ von 1816 in den beiden unteren Klassenstufen jeweils sechs, bis zum Abitur sogar jeweils acht Stunden für Latein vorgesehen; einen ähnlich hohen Stundenanteil konnten nur noch Griechisch (5-7 Stunden) und Mathematik (6 Stunden) erreichen.   (1767-1835) und den sog.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entfernte sich dieses liberale Bildungskonzept Humboldts im­mer weiter von seinen ursprünglichen Zielen. Die Schule sollte unter dem Einfluss restaurati­ver Bildungspolitik Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Pflichterfüllung und Selbstgenüg­samkeit vermitteln. Hierzu schien gerade Latein hervorragend geeignet: Die Römer galten durch ihre Sprache und die dazugehörigen Texte als Muster für Ordnung, Disziplin und Pflichterfüllung gegenüber dem Staat. Auf diese Weise wurde Caesar, der bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine untergeordnete Rolle in der Schullektüre geführt hatte, zum wichti­gen Schulautor und zum Identifikationspunkt des Lateinunterrichts schlechthin. Hierfür waren einerseits sprachliche Gründe ausschlaggebend. Das Bellum Gallicum galt als eine Schrift, die „durch ihr mustergültiges Latein dem Schüler für die Erlernung der Sprache auf dem Wege der unbewussten Aneignung die wesentlichsten Dienste leistet“ (Hermann Perthes, 1875). Andererseits eigneten sich Caesars Schriften in besonderer Weise zur politischen Instrumen­talisierung. So sollen nach der Auffassung des bedeutenden Didaktikers Peter Dettweiler (1906) „auch Tertianer ... etwas von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Unterwerfung Galliens verstehen lernen. Dazu kommt die stete Beziehung zu dem Heimatlichen, das hier zum ersten Male der Knabe aus einer römischen Quelle schöpft. Der Gegensatz der römischen Kultur und der germanischen Urkraft, der sich in der Geschichte der folgenden Jahrhunderte immer wieder zeigt, die Berichte über deutsche Männer und Verhältnisse in alter Zeit bringen sogar ein nationales Interesse zur Geltung. Auch die Beziehungen unseres Landes zu Frank­reich ergeben wertvolle Berührungspunkte. Der keltische Nationalcharakter, die geographi­schen Verhältnisse Galliens, die eine Anknüpfung an die Schlachtfelder des deutschen Krie­ges, an die Marschlinien unserer Truppen zulassen, sind hier zu erwähnen. Besonders darf man hier an den alten Streit um die Rheingrenze denken.“ Im Vergleich dazu verloren die Griechen wegen ihrer demokratischen Staatsform an unmittelbarer politischer Vorbildfunk­tion. Zugleich wurde die Bedeutung der aktiven Sprachbeherrschung immer weiter verringert. Am Ende des 19. Jahrhunderts galt nicht mehr die sprachlich-formale Bildung, sondern die „Einführung in das Geistes- und Kulturleben des Altertums“ als höchstes Unterrichtsziel. Die entscheidenden Schulautoren in dieser Zeit waren neben Caesar und Cicero die Historiker Livius und Tacitus sowie die Dichter Ovid, Horaz und Vergil. Anhand dieser antiken Texte sollte zugleich die Liebe zu König und Vaterland gefördert werden, ein Ziel, das während des Ersten Weltkrieges seinen fragwürdigen Höhepunkt erlangte.

In der Weimarer Republik sollte der Lateinunterricht unter veränderten politischen Vorgaben erfolgen: Vor dem Hintergrund der politischen Wirren nach Ende des Weltkriegs erhielt er die Aufgabe, im Sinne der sog. Kulturkunde dazu beitragen, das Verständnis für die deutsche Kultur zu verbessern und das Nationalgefühl zu fördern. Zugleich wurden unter dem Einfluss der Reformpädagogik die Lehrbücher modernisiert und erheblich kindgerechter gestaltet. Da die aktive Beherrschung der lateinischen Sprache nicht mehr als wichtiges Ziel betrachtet wurde, konzentrierte man den Unterricht nach Abschaffung des lateinischen Abituraufsatzes (1925) stärker auf die Übersetzung lateinischer Texte ins Deutsche, eine Entscheidung, die bis heute den Lateinunterricht nachhaltig prägt.

Die Instrumentalisierung des Lateinunterrichts für politische Zielsetzungen erreichte ihren Höhepunkt freilich erst in der Zeit des Nationalsozialismus. Die römischen und griechischen Autoren sollten in völliger historischer Verzerrung ausschließlich unter rassenideologischen Gesichtspunkten ausgewertet werden und zugleich zur sog. „wehrgeistigen Erziehung“ bei­tragen. So wurden aus den Lehrplänen von 1938 die römischen Dichter verbannt, statt dessen standen Autoren wie Caesar, Tacitus und Livius im Vordergrund, an deren Beispiel Führer­persönlichkeiten, alte Römertugenden und die besonderen Eigenschaften der Germanen ge­würdigt werden sollten. Die tatsächliche Rolle des Lateinunterrichts in dieser Zeit ist jedoch zwiespältig: Ohne Frage gab es vielfältige Anstrengungen, den Lateinunterricht ganz dem ideologischen Diktat des nationalsozialistischen Staates zu unterwerfen. Andererseits gibt es zahlreiche Belege dafür, dass nicht wenige Lateinlehrer, ohne sich politisch verdächtig zu machen, den verordneten ideologischen Ballast aus dem Unterricht ferngehalten und sogar regimekritische Töne eingeflochten haben. So berichtet Walter Jens über seinen Lateinlehrer Ernst Fritz, der die Schüler das Horst-Wessel-Lied ins Lateinische übersetzen ließ: „An der Stelle Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier'n im Geist in unsern Rei­hen mit fragte er, was hiervon Nominativ sei und was Akkusativ. Wer hat wen erschossen? Und ist der Vorgang bereits abgeschlossen, also Perfekt: necaverunt? Oder morden die Kame­raden noch immer, Imperfekt: necabant? Mithilfe solcher Grammatikübungen öffnete er uns die Augen.“